Theresa Rath

Autorin

Babe

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Ich bin über dreißig. Und das einzige Wesen, mit dem ich mir dauerhaft das Bett teile, ist ein altes, abgeliebtes Plüschschwein, das meine Oma mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt hat, nachdem 1995 der Film „Ein Schweinchen namens Babe“ in den Kinos gelaufen war. Babe, wie ich das Kuscheltier in einem kreativen Höhenflug taufte, wartet geduldig auf meinem Kopfkissen auf mich, wenn ich arbeiten bin. Wenn ich nach Hause komme, rufe ich ihm einen Gruß zu. Und wenn ich nachts einschlafe, liegt Babe in meinen Armen, bis ich es meistens in der Nacht aus meinem Griff verliere und morgens neben meinem Bett auf dem Boden auffinde. Mit schmerzendem Herzen klaube ich dann seine rosa Stoffgestalt vom Laminat und drücke Babe noch einmal an mich, bevor ich meine müden Glieder unter die Dusche schleppe. Ich weiß nicht, wie es so weit gekommen ist, doch Babe ist die einzige Beziehungskonstante, die es in meinem Leben gibt.

Um mich herum bekommen plötzlich alle Kinder. Oder sie versuchen es. Oder sie heiraten oder schaffen sich Haustiere an. Die kollektive Partywut der Zwanziger ist abgeflaut. Auch die intensiven Freundschaften, die wir in diesen Jahren kultiviert haben, machen Platz für etwas Neues, kernfamilienartigeres, häuslicheres. Vor einer Weile, wahrscheinlich mit Corona, ganz heimlich, als hätte es nichts mit dem schleichenden Älterwerden zu tun, verlagerten sich unsere Treffen nach und nach von Bars und Clubs in wechselnde Wohnzimmer; meist in die Wohnzimmer der Personen, die bereits über den Luxus einer eigenen Wohnung verfügten, während die letzten WG-Veteranen sich zunehmend über die Vorteile von ungeteilten Badezimmern klar wurden. Während wir zu Beginn noch auf dem Sofa der einen Freundin lümmelten, die den Sprung in die Zwei-Zimmer-Wohnung bereits vollzogen hatte, und Wein aus Ikea-Gläsern tranken, füllten sich die Wohnzimmer nach und nach mit Zubehör: Beamer, Lesesessel, Home-Trainer, Partner.

Immer öfter sitzt einer dieser Partner jetzt daneben, wenn mal wieder eine Einladung zu einem Essen kommt, bei dem dann alle Freundinnen aus dem Studium eingeladen sind und – untereinander einander fremd – versuchen, Momente des unangenehmen Schweigens mit Fragen (wow, wo habt ihr denn dieses tolle Geschirr her?) und Komplimenten (das Rezept ist echt toll, das müsst ihr mir unbedingt geben) zu überbrücken. Immer wieder bin ich perplex angesichts dessen, wie wohl sich alle bei diesen Abendveranstaltungen zu fühlen scheinen, während ich mich zuhause mental drei bis fünf Stunden darauf vorbereite, überhaupt das Haus verlassen zu können, wenn ich weiß, wie viel Smalltalk mich erwartet. Mit einem Gefühl, als hätte mich ein Lastwagen überfahren, sozial ausgelaugt und dennoch einsam, verlasse ich derartige Events immer zu früh und mit einem chronisch schlechten Gewissen, um dann – in meiner eigenen Wohnung angekommen – nicht zu wissen, was ich noch mit dem Abend anfangen soll.

Auf Instagram springen mir viereckige Zeugnisse dieses neuen Lebensabschnitts entgegen, ohne dass ich mich dem entziehen könnte: Runde Bäuche mit Bemalung, Babys erste Schritte, der Kuss bei der Trauung und auf manchen Profilen so viele Bilder von Hochzeiten, dass ich glaube, die machen das beruflich. Überall scheint die ultimative Liebe ausgebrochen: Freundin mit Hund, Freundin mit Katze, Freundin mit Partner und Hund, Freundin mit Partner, Baby und Hund, Baby mit Katze, Hund mit Partner, ich verliere langsam den Überblick. An Weihnachten ist es besonders schlimm, da sehe ich so viele glückliche Paare vor so vielen abgesägten Tannenbäumen, dass mir mein Frühstück wieder hochkommt. Ich versuche, nicht so abwertend zu sein. Ist aber wahrscheinlich ein Schutzmechanismus. Denn was jedes dieser Bilder, jedes dieser Abendessen und jede abgelehnte Einladung zu mir auf einen Kaffee mit einem „Wir haben heute schon Pläne“ auslöst, ist das Gefühl, abgehängt zu sein. Als wäre ich irgendwie in meinen Zwanzigern stecken geblieben und nun auf immer dazu verdammt, das einsame Leben einer Wendy in Peter Pans Nimmerland zu leben, während alle anderen sich etwas aufbauen und hineinwachsen in die nächste Lebensphase, und sogar Peter Pan mittlerweile in einer Unternehmensberatung arbeitet, seine Bolognese über Nacht ziehen lässt und seine langjährige Freundin zärtlich „Hummelchen“ oder so ähnlich nennt.

An manchem grauen Januarmorgen packt es mich und ich sitze heulend über meiner Tasse Kaffee, blinzle durch meine Tränen und die schon wieder dreckigen Fenster hinaus in Park hinter meinem Haus, wo eine junge Frau einen Kinderwagen durch den Matsch schiebt, und wünsche mir nichts mehr als das. Mein Selbstmitleid kocht über, als ich an meine alternden Eltern denke, denen ein Enkelkind für immer vorbehalten sein wird, und an die Pflegekatze, die ich für ein paar Tage bei mir hatte, bis sie adoptiert worden ist. Ich wünsche mir, noch einmal meine Nase in ihrem Fell vergraben zu können und wieder ihr Miauen zu hören, wenn ich nach einem langen Arbeitstag die Tür zu meiner Wohnung aufschließe. In meinem Kopf gehe ich die Liste von Namen durch, die ich meinen Kindern geben würde, wenn ich denn welche hätte, und die ich seit Grundschultagen mit mir umhertrage. Das Leben scheint mir sinnlos. Für wen lebe ich, denke ich, wenn ich mein Leben mit niemandem teile? Mein immer noch tränenverschleierter Blick fällt auf die Sukkulente, die ich von ich weiß nicht mehr welcher Freundin zum letzten Geburtstag bekommen habe, und die irgendwie ungesund aussieht in ihrem tönernen Topf. Ich strecke vorsichtig einen Finger aus und berühre ihre Blätter, die glitschig sind und unter meiner Berührung nachgeben. Noch ein Fail, denke ich, und vergrabe meinen Kopf in Babes Borsten, während ich um die tote Pflanze trauere. Nicht mal Sukkulenten halten es mit mir aus.

Was ist bloß los mit mir, frage ich mich, während ich systematisch die Beziehungen mit meinen Verflossenen durchgehe, auf der Suche nach dem letalen Muster. Wie kommt es nur, dass jeder meiner Partner sich in Sekundenschnelle von einem potenziell attraktiven Lebensabschnittsgefährten in den Verschnitt eines pubertierenden Kindes verwandelt, das mir rotzig meine Verfehlungen vorwirft? Hat das etwa mit mir zu tun? Warum kann ich mich noch nicht einmal zu einer Katze committen, weil ich nicht weiß, ob ich das Katzenstreu in meiner Wohnung aushalte, während mir jede Art von Detachment das Herz in so viele Teile zertrümmert, dass ich immer wieder glaube, mich davon nie wieder zu erholen, bloß um mich nur Wochen später wieder zu denselben emotionalen Risiken bereit zu finden? Welcher Teil meiner Seele ist mir abhandengekommen, dass bei mir sogar die Zimmerpflanzen in regelmäßigen Abständen kläglich verenden? Wenn ich das nur richten könnte, wenn es mir nur gelingen würde, irgendetwas zu halten – einen Mann oder ein Haustier, vielleicht Kinder (aber nicht in Käfigen), eigentlich egal – dann wäre ich glücklich, bestimmt. Dann hätte ich meinen Zweck auch in meinen Dreißigern erfüllt, und könnte endlich entsprechende Bilder auf Instagram posten. Ich müsste nicht mehr meine Familie enttäuschen und nicht mehr jede Einladung mit „plus one“ absagen, weil „minus one“ dorthin zu gehen sich immer anfühlt, wie das dritte Rad an einer Reihe von Wägen zu sein.

Und dann erreicht mich endlich, die Gnade Gottes ist unermesslich, der Anruf, der mich aus meinem selbstgegrabenen Abgrund reißt: Es ist meine Freundin mit austauschbarem Namen, die sich wieder einmal mit ihrem Partner gestritten hat. Du hast es gut, seufzt sie, und ich sehe sie am anderen Ende der Leitung mit den Augen rollen. Ich beneide dich um deine Freiheit. Und ich beneide dich um dein Zuhause, will ich sagen, beiße mir jedoch auf die Zunge. An anderen Tagen erzählt mir eine andere Freundin während eines der selten gewordenen Besuche in unserem Lieblingscafé, dass sie nicht sicher ist, ob sie je Kinder haben will, weil schon ihr Haustier ihr so viel abverlangt und sie sich eingeschränkt fühlt. Wenn ich im Hintergrund bei einem Telefonat höre, wie zwei Kleinkinder unablässig nach ihrer Mama rufen und die jeweilige Freundin entnervt stöhnt und mich zum zigsten Mal um Entschuldigung bittet, weil sie mich unterbrechen muss, bin ich ehrlich gesagt froh, wenn ich wieder auflegen kann.

Nichts davon bedeutet, dass ich mir nicht auch irgendwie ein solches Leben wünsche. In mir ist das Bedürfnis nach tiefer Verbindung zu anderen Menschen, danach, gebraucht und geliebt zu werden. Ich will mir mit anderen etwas aufbauen und nicht eigenbrötlerisch hinter einem Schreibtisch oder den Seiten eines Buches verschwinden. Aber was das bedeutet, ist, dass auch Kinder oder ein Partner oder ein Haustier mich nicht glücklich machen werden. Nichts wird mich dauerhaft glücklich machen, wenn es im Außen geschieht. Meine Zufriedenheit muss von innen kommen, wenn sie dauerhaft sein soll. Zweifelsohne gibt es Umstände, die idealer oder weniger ideal sind, aber es gibt keinen Zustand der Perfektion. Menschen wollen fast immer das, was sie gerade nicht haben können, und ich bin da nicht anders. Etwas erzwingen zu wollen, ist immer eine schlechte Idee, und dies ist eine der wenigen Regeln, für die keine Ausnahmen gelten.

Es bedeutet außerdem, dass alles seine Zeit hat – das Alleinsein und das Zusammensein, gefühlte Stagnation und sprunghafte Entwicklung. Und die Zeit läuft nicht für alle gleich, sondern jeder hat seine eigene Zeit, in der die Dinge geschehen und das Leben sich ausformt und verändert. Nichts ist absolut: keine Einsamkeit, keine Verbindung, kein Zusammensein und kein Ausgeschlossensein. Wie tief wir diese Gefühle empfinden, hängt vor allem von unserer eigenen Bereitschaft ab, uns mit ihnen auseinanderzusetzen und das Bedürfnis dahinter zu erkennen und zu nähren. Vielleicht muss ich, bevor ich von einer Pflegekatze zu einem dauerhaften Mitbewohner wechseln kann, noch herausfinden, was sich hinter meiner Abneigung gegen Katzenstreu verbirgt. Vielleicht ist es auch okay, für den Moment keine Zimmerpflanzen zu haben und zu akzeptieren, dass ich nicht über einen grünen Daumen verfüge. Und ganz sicher heißt keinen Partner zu haben nicht, dass ich meinen Lebenssinn verfehle, auch wenn das besonders Frauen in ihren Dreißigern leider immer wieder so gespiegelt wird.

Ich werde nicht aufhören, meinem Bedürfnis nach Familie und einem Zuhause Raum zu geben und diese Stimme in mir ernst zu nehmen. Aber ich werde mich auch nicht länger verurteilen, wenn das einzige Wesen, das ich für bestimmte Zeitabschnitte regelmäßig in den Arm nehme, mein Schweinchen Babe ist. Im Übrigen hat mir dieses immer die Treue gehalten. Und mir ist so ein Schwein im Bett tatsächlich lieber als ein anderes.

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